Antwort auf: [Juli Camp 2017] Lagerfeuerplatz

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#7944
Taaya
Teilnehmer

Ist etwas lang *hust*

Prolog

Sein Leben lang hatte er Bücher geliebt, aber nie war es genug gewesen, nie das Richtige darunter. Immer hatte er gelesen, Bücher gefunden, die er mochte, sich sogar in manch ein Buch verliebt, es in seine Sammlung aufgenommen und immer wieder gelesen.
Er hatte nie wirklich auf die Genres geachtet. War mit Büchern eingeschlafen und aufgewacht, las im Bett, auf der Toilette, beim Essen und wann immer er nicht arbeitete. Er las, was immer er an Büchern in die Hände kriegen konnte, aber ES war nie dabei gewesen. Er wusste nicht einmal, wonach er suchte, er wusste nur, dass es nach ihm rief. Wenn er nachts in seinem Bett lag, immer in einem anderen Hotel, immer unterwegs auf der endlosen Reise, die sich sein Leben nannte, dann lauschte er in die Dunkelheit hinein und hörte dem Wind zu.
Leise wehte dieser zum immer leicht geöffneten Fenster hinein und säuselte seinen Namen und immer konnte er schwören, dass etwas ihn bat, gefunden zu werden. Ohne den geringsten Anhaltspunkt dafür zu haben, wusste er, dass es ein Buch war, das da nach ihm rief. Sein musste. Nichts Anderes spielte in seinem Leben eine so große Rolle, nichts Anderes hatte je wirklich einen Platz in seinem Leben gehabt, was sollte es also sonst sein? Und so lag er immer da, lauschte dem Flehen, ertappte sich oft dabei, zu antworten, um einen Hinweis zu bitten. Zu erfragen, warum ausgerechnet er gerufen wurde. Und doch kam da nichts, nur die gleichen Worte wie immer. Sein Name und ab und an ein leises „Finde mich“.
Doch wenn die Nacht vorbei war, war die Stimme verschwunden und der Wind nur noch Luft. Und jeden Morgen wieder blieb er ohne Antwort zurück, immer weiter getrieben von diesem Gefühl, etwas zu suchen, was er nicht greifen konnte. Etwas, was er aber brauchte, ohne dass er keinen Frieden finden konnte. Das perfekte Buch? Das unmögliche Buch?

Kapitel 1: Das Flüstern in der Nacht

Fianan war umgeben von Büchern aufgewachsen, sie standen in jeder Ecke, lagen auf jedem Tisch, teils als Dekoration, teils abgelegt, um schnellstmöglich wieder aufgenommen und gelesen zu werden. Manche Möbel bestanden sogar aus Büchern, mit einem Sitzkissen darauf für einen Stuhl oder einem Holzbrett, damit sich eine Ablagefläche bildete. Ein Raum ohne Buch ist wie ein Gesicht ohne Lächeln, hatte seine Mutter immer gesagt und dann gleich noch mehr Bücher ins Haus geholt.
Sie war keine besonders herzliche Frau gewesen, die selbst allzu häufig gelächelt hätte, das nicht. Immer war sie seltsam distanziert gewesen, in ihrer eigenen Welt lebend und der wahren Welt abgeneigt. Hatte sich, so oft es ging, irgendwo verkrochen und war nicht gerade das, was man einen mütterlichen Typ genannt hätte. Und doch hatte sie ihm das größte Geschenk gemacht, das zu geben sie in der Lage gewesen war, und auch das größte, das er je hätte erhalten können. Sie hatte ihn in die Welt der Bücher eingeführt und ihm eine Zuflucht gegeben. Wenn sie ihm ein neues Buch vorlas, dann war sie wie eine normale Mutter gewesen und auch, wenn er sie später fragte, welches Buch er denn als nächstes lesen könnte. Dann hatte es sich angefühlt, als wäre es bei ihnen normal. Richtig. Als wären sie eng verbunden.
Auch sein Vater war ähnlich gewesen. Er war ein gutmütiger Mann, aber irgendwie nicht richtig da. Körperlich greifbar, aber doch geistig fort. Erst mit den Jahren hatte Fianan begriffen, warum seine Eltern so waren, so vollkommen anders wirkten als die anderen Eltern, als andere Leute im Allgemeinen. Erst, als kein Kind mit ihm spielen wollte, weil er so seltsam sei, und er deshalb nur noch mehr in seine Verhaltensweisen verfiel. Immer mit der Nase in einem Buch, als wolle er gar kein Teil der wirklichen Welt sein. Das war es also. Er war ein Gefangener der Buchwelt, genau wie seine Eltern. Die wahre Welt hatte ihn tiefer hineingedrängt und bald hatte er nicht mehr richtig hinausgefunden. Hatte sich hier auch wohler gefühlt. Natürlich war die Welt, in der er nun lebte, nur fiktiv, und doch erschien diese ihm so viel wirklicher, so viel besser und lebendiger. Und da begann er, seine Eltern zu verstehen. Wer brauchte schon diese echte Welt, diese ständige Kleinkriege, wer das letzte Stück des Kuchens bekam, wer besser für einen Job qualifiziert war, oder wer die schöneren Schuhe zu einer Hochzeit trug?
Je älter er wurde, je mehr Bücher er las, desto mehr wurde Fianan all das zuwider, was sich sonst um ihn herum abspielte. Was interessierte ihn, welcher angeblich berühmte Mensch nun eine Affäre mit einem anderen angeblich berühmten Menschen hatte? Nein, anstelle von Klatsch las Fianan lieber, welcher Troll welchen Elben jagte, wie mit Magie ein Herz aus Papier zu schlagen begann und so eine Weile lang einen Körper aus Fleisch und Blut am Leben erhielt, und wie es sein konnte, dass ein Zwerg zwei Meter Körpergröße übertraf. Wie Zombies mit Kuscheltieren schmusten und kleine Hamstervampire ihre Zähne in andere Wesen schlugen. Aber nicht nur die Fantasie hatte es ihm angetan. Auch alles andere las er. Von mordenden Clowns bis hin zu mordenden Adligen im Mittelalter, die einst wirklich gelebt hatten. Hauptsache, darin waren Spannung, Abenteuer, Liebe oder wenigstens eine Lektion, die er lernen konnte. Oder das Buch war ein Fenster in eine Welt, die er nie würde beschreiten können, wenn nicht durch Papier und Tinte. In Wälder und Höhlen, in denen er sich verlief und Abenteuer erlebte.
Wen wunderte es da, dass er nach seinem Schulabschluss etwas mit Büchern machen wollte? Nein, wollen war wohl nicht das richtige Wort. Er wollte gar nichts tun, außer lesen. Seine Nase in Bücher stecken und dafür auch noch Geld bekommen. Aber so sehr er sich danach sehnte, völlig in der Buchwelt aufzugehen, so sehr gab es doch einen Zwang der wahren Welt, dem er nicht entkommen konnte. Menschen mussten arbeiten, sich ernähren und ein Dach über dem Kopf haben – und sei es nur, damit die Bücher bei Regen nicht nass wurden.
Doch obwohl er in der Zeit des Internets aufwuchs, im Zeitalter der Blogs und YouTube-Stars, fand er dort nicht seinen Platz. Er wollte Bücher nicht für andere bewerten. Der Großteil der Menschen war in seinen Augen zu ignorant, und sicherlich hätte er es nicht übers Herz gebracht, zu lesen, wie andere seine geliebten Bücher kritisierten. Nein, selbst wenn er zu den wenigen hätte gehören können, die davon leben könnten, glaubte er nicht, dass er es hätte ertragen können.
Als Händler hätte er schnellen Zugang zu neuen Büchern gehabt, natürlich, aber da wären diese vielen Menschen gewesen, mit denen er hätte reden müssen. Verleger? Zu viel Finanzielles zu bedenken, was dann gleich auch noch seine Autoren und Mitarbeiter beeinflusst hätte. Und Bibliothekare mussten wiederum eher Menschen als Bücher versorgen, also blieb ihm nur das Handwerk. Und so begann er, als Buchbinder in die Lehre zu gehen. Er lernte die edle Kunst, wie man Bücher band und sie restaurierte. Lernte, wie man Titel einprägte und auch, wie man es schaffte, sich dabei so selten wie möglich zu verbrennen.
Und dann war seine Lehrzeit vorbei, die Prüfung bestanden. Noch wohnte er in einem über Jahre gemieteten Zimmer in einem Wohnheim. An einem festen Ort, mit festen Regeln, Ritualen und einem Alltag, der planbar war. Aber das sollte sich nun ändern, ohne dass er das so gewollt hätte. Dem Tag seines Abschlusses folgte die Nacht, in der er zum ersten Mal die Stimme nach sich rufen hörte. Gerade war er mit dem neuesten Buch Stephen Kings auf der Brust eingeschlafen, da säuselte jemand seinen Namen. Sofort saß Fianan kerzengerade auf seinem Bett und starrte in die Nacht hinein.
Er konnte niemanden sehen, obwohl der Vollmond hell in sein kleines Zimmer schien, dessen Fenster groß genug war, um den ganzen Raum in bleichem Licht erstrahlen zu lassen. War es nur ein Hirngespenst, ein beginnender Traum gewesen?
Und dennoch hörte er auch jetzt, wach und aufmerksam lauschend, diese Stimme. Aber etwas war seltsam daran. Er hörte sie mehr in seinem Kopf als durch die Ohren.
Fianan stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Nichts. Eine streunende Katze, die ab und an sanft maunzte, lief am Gebäude vorbei, aber sonst war auf den Straßen der verschlafenen Kleinstadt gähnende Leere. Auch auf dem Flur des Hauses hörte er nichts außer dem Schnarchen des Studenten, der das Zimmer neben ihm bewohnte. Und doch war da diese Stimme und ließ sich einfach nicht vertreiben, egal wie viele Kissen der junge Mann sich auf die Ohren drückte.
Das war die Nacht, in der er rastlos geworden war. Seit dem Zeitpunkt hatte er jeden Tag seines Lebens unterwegs verbracht, war von einer Stadt zur nächsten gereist und hatte jeder Buchhandlung, jeder Bibliothek und jedem Sammler seine Dienste angeboten, getrieben von etwas, das er nicht beschreiben konnte und in der Hoffnung, das zu finden, was ihn ruhelos machte. In der Hoffnung, die Stimme verstummen zu lassen.